Seit einigen Monaten hängen in den Büroräumen bei Studitemps zahlreiche große Boards an den Wänden auf denen sich viele bunte Post-Its tümmeln. Was bei den meisten, die die Methode nicht kennen, auf den ersten Blick wohl eher für Fragezeichen sorgt, entpuppt sich in der Praxis als große Hilfe. Wir haben aus diesem Anlass David Schmithüsen, Experte für Kanban und Projektmanagement, befragt, was genau Kanban ist und wie andere Unternehmen diese Methode ebenfalls für sich anwenden und von ihr profitieren können.
Herr Schmithüsen, können Sie uns in ein paar Sätzen erläutern, wer Sie sind und was Sie beruflich machen?
Ich coache und berate Führungskräfte und Teams, wie sie sich besser organisieren können. Meistens startet das in der Abteilung, in der Software entwickelt wird und ich werde von dort in andere Abteilungen empfohlen. Coaching heißt hier: ich helfe durch Fragen dem Unternehmen und einzelnen Personen herauszufinden, wie die Lösung für ihr Problem sein könnte und wir designen dann ein Experiment gemeinsam.
Das bedeutet, meine Arbeit besteht aus: Genau zuhören und hinschauen, Fragen stellen, gemeinsam Workshops konzipieren und durchführen und jeder Menge Moderation.
Ich habe Informatik auf Diplom in Koblenz und Bonn studiert. Ich bin regelmäßig auf Communityveranstaltungen wie dem Scrumtisch oder diversen Open Space und Barcamp Veranstaltungen in der Region und überregional anzutreffen.
Ich tanze aktiv Salsa und Kizomba, meist auf Parties in Köln oder Bonn. Außerdem engagiere ich mich im Netzwerk "Achtsame Wirtschaft". Mehrmals im Jahr fahre ich zu Retreats nach Waldbröhl ins European Institute for applied Budism, kurz EIAB, um Kraft zu tanken, mich zu erden und neue Ideen zu sammeln.
Außerdem organisiere ich mit drei Kollegen zusammen die Open Space Serie "Agile Cologne", um das Know How in der Region zu verteilen.
Was genau ist Kanban und wofür eignet es sich?
Kanban für Wissensarbeiter (früher IT Kanban) ist eine Methode zur Steuerung und kontinuierlichen Verbesserung von Arbeitsabläufen in der Wissensarbeit. Scrum ist ein Framework zur Entwicklung von Softwareprodukten. Auch wenn sie häufig in einem Atemzug genannt werden, sind sie grundverschieden. Man kann Scrum und Kanban gleichzeitig nutzen, da sie unterschiedliche Zielrichtungen haben. Beide Konzepte werden üblicherweise der agilen Softwareentwicklung zugeordnet. Das Konzept der kontinuierlichen Verbesserung - japanisch Kaizen - spielt in beiden Methoden eine zentrale Rolle.
Wie sind Sie selbst auf diese Thematik aufmerksam geworden?
Auf dieses Thema bin ich aufmerksam geworden im Rahmen eines Praktikums an der Uni Bonn. Dort haben wir nach der Methode eXtreme Programming (kurz XP), in einem Projekt für vier Wochen zusammengearbeitet. Für mich war das eine sehr Intensive Erfahrung von Teamarbeit. Ich greife noch heute häufige auf die Erfahrungen von damals zurück. eXtreme Programming wird übrigens ebenfalls zur agilen Softwareentwicklung gezählt.
Nach meinem Studium habe ich dann gezielt nach einer Firma Ausschau gehalten, die nach einer der genannten Methoden arbeitet. Mittlerweile arbeite ich nun schon seit einigen Jahren im Umfeld der agilen Softwareentwicklung. Ich kann mir nicht vorstellen, wieder zur alten Denk- und Arbeitsweise zurückzukehren.
Kann man Kanban in jedem Unternehmen und jeder Abteilung nutzen?
Meiner Meinung nach ja – Kanban für Wissensarbeiter basiert auf den Prinzipien („Foundational principles“) und Praktiken („core practices“), die ziemlich universell sind. Es mag jedoch wenige Situationen geben, wo der Einsatz möglich, jedoch nicht nützlich ist.
Welche Probleme herrschen bei Unternehmen und ihren Abteilungen Ihrer Erfahrung nach am meisten vor?
Das ist eine gute Frage. Die Liste ist lang und ich kann sie nicht wirklich in eine gute Reihenfolge bringen, daher hier als ungeordnete Aufzählung:
Mangelnde Ausbildung von Führungskräften
eine fehlende gute Antwort auf die Frage: Warum gibt es uns oder warum tun wir, was wir tun
schlechte Verzahnung mit Nachbarabteilungen
Fokus auf prozessualem Denken statt Menschlichkeit zu berücksichtigen
aber im System anstatt am System – also fehlende Verbesserung im Unternehmen
Management von oben herab, statt die Leute mit einzubeziehen und in die Verantwortung zu geben ihre eigene Arbeit zu gestalten
Respekt gegenüber der Professionalität anderer
Annahme, dass Menschen zur Arbeit angereizt werden müssen, da sie von Natur aus faul und träge seien, statt der Haltung, dass jeder mit seiner Zeit etwas Sinnvolles beitragen will.
Wie kann etwas dagegen unternommen bzw. etwas verbessert werden?
Das geht ganz einfach: mit gesundem Menschenverstand! Oft braucht es dazu aber jemanden von Außen. Das kann auch jemand aus einer anderen Abteilung sein, dem der Kontext fremd ist und der weiß, welche Fragen man stellen muss. Es gibt immer wieder ähnliche Grundsätze: die Menschen einzubeziehen, transparent und ehrlich mit einander umzugehen und schließlich sich und seine Arbeitsweise kontinuierlich weiterzuentwickeln. Wichtig ist, dass dies als permanente Aktivität begriffen wird, da die Arbeitsweise von heute, vielleicht heute perfekt für die aktuelle Situation, einen Monat später suboptimal sein kann. Dem kann ich nur begegnen, wenn ich regelmäßig retrospektiere und mir Gedanken mache, was weiter entwickelt werden sollte.
Gibt es Kanban nur als Offline-Variante oder auch online? Was ist eher empfehlenswert und für wen?
Bei Kanban geht es nicht im Vordergrund um das Tool, also weder die Visualisierung in Form eines Taskboards, noch ein elektronisches Tool, sondern um eine funktionierende Visualisierung die allen Beteiligten hilft, zu verstehen wie die Dinge funktionieren bzw. was als nächstes dran ist. Egal welches Tool man einsetzt (offline oder online) – wichtig ist das es alle diszipliniert einsetzen und nutzen. Ein Tool, das nicht von allen konsequent genutzt wird, taugt nicht für den Zweck der Transparenz.
Persönlich bevorzuge ich die offline Variante, denn die bringt für mich die meiste Transparenz. Wenn es nun ein online Tool sein muss, zum Beispiel weil alle Beteiligten verteilt arbeiten und ständig mit dem Passwort interagieren, dann gibt es eine Vielzahl an Tools zur Auswahl. Sie unterscheiden sich in Einfachheit und Funktionsumfang. Hier muss eine gute Abwägung getroffen werden, was im vorliegenden Kontext sinnvoll zu nutzen ist. Wenn ein bestimmtes Tool etwa für das Team gut geeignet ist ,aber vom Geschäftsführer nicht genutzt wird, so kann es auf Geschäftsführerebene nicht für Transparenz sorgen.
Ich habe schon häufig mit Teams gearbeitet, die online Tools einsetzen, habe dabei jedoch die Erfahrung gemacht, dass das Tool sie häufig von dem eigentlichen Zweck, also Transparenz und der gemeinsamen Arbeit im Team, ablenkt. Daher bin ich mit dem Einsatz von elektronischen Tools sehr vorsichtig geworden – ein elektronisches Tool kann nicht die Kommunikationsprobleme magisch lösen.
Und wie genau lässt sich die Methode in den Joballtag integrieren? Zum Beispiel auch mit einem großen Team.
Kanban fokussiert nicht auf Teams. Man kann es mit fast jeder Firma und Abteilungsgröße nutzen. Wenn man es in den Alltag integriert, kommen immer wieder die gleichen Fragen auf: Wie arbeiten wir? Wie genau tragen wir zur Wertschöpfung des Unternehmens bei? Von wo kommt die Arbeit? Wo wartet Arbeit auf den nächsten Kollegen? Wie fließt die Arbeit durch unser Unternehmen?
Aus all diesen Fragen ergibt sich der nächste Schritt: Wie können wir die Arbeit in all diesen Zuständen visualisieren? Nach welchen Regeln arbeiten wir?
Und schließlich: In welchen Abständen treffen wir uns wieder, um unsere Arbeitsweise zu inspizieren und zu verbessern? Dies ist ein entscheidender Schritt: Wenn es gelingt, die Verbesserung unserer Arbeitsweise regelmäßig zu betreiben, spielt es kaum eine Rolle von welchem initialen Stand wir begonnen haben.
Man hört von Kanban, es sei eine besonders “agile Methode”. Was genau kann man sich darunter vorstellen?
Im Projektmanagement im IT-Bereich, hat sich in den vergangenen ca. 20 Jahren ein ganzes Sammelsurium an Vorgehensweisen angesammelt. Sie versuchen Probleme mit den darin vorhandenen Methoden zu lösen. Im Zentrum steht hierbei das man auf Veränderungen schnell reagieren möchte, so ist das Wort agil als Sinnbild für diesen Wandel geworden. Es gibt keine richtige Definition was hier eigentlich ist – was es gibt, ist das sogenannte agile Manifest. Hier haben die Erfinder der unterschiedlichen agilen Methoden, (damals hießen sie noch nicht so) versucht festzuhalten, was der gemeinsame Kern ihrer Erfahrungen in Projektsituationen ist. Man kann das agile Manifest zum einen als Definition des Begriffes "Agile" verstehen, man kann es jedoch auch als gemeinsamen Nenner der verschiedenen unter diesem Begriff subsumiert Methoden sehen.
Warum sind diese agilen Methoden Ihrer Meinung nach nicht schon längst Standard in der deutschen Arbeitswelt?
Das frage ich mich auch häufig. Aber Spaß beiseite – in der IT werden diese Methoden gerade Standard. Es dauert seine Zeit, bis sich so etwas flächendeckend durchsetzt. Es gibt Stimmen, die behaupten, bis sich wissenschaftliche Erkenntnisse in der Wirtschaft durchsetzen, dauert es rund 100 Jahre.
Die Veränderungen, die durch agile Methoden angestoßen werden, sind tiefgreifend. Sie stellen Fragen nach der Sinnhaftigkeit unserer Arbeit. Sie kratzen an althergebrachtem Umgang, z.B. mit Budgets und hinterfragen viele Werte und Verhaltensweisen (z.B. Menschenbild, Führung, Umgang mit Budgets, Kommunikation…) im Unternehmen. Die Kultur in einem Unternehmen nachhaltig zu verändern, ist keine einfache Geschichte und es braucht in der Regel mehrere Anläufe, um dies zu schaffen.
Würden Sie pauschal, branchenübergreifend sagen, dass jeder Arbeitsbereich in irgendeiner Form davon profitieren kann?
Ja, ich denke es gibt nur sehr wenige Umfelder, wo es nichts nutzt. Vorausgesetzt, wir haben es mit einem komplexen Arbeitsumfeld zu tun, kann meiner Meinung nach jeder Bereich davon profitieren. Komplex bedeutet, dass man den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nicht eindeutig herstellen kann. Das führt dazu, dass ich nicht sicher vorhersagen kann, was passiert wenn ich etwas tue. In diesen Umfeldern kann ich durch Versuch und Irrtum am besten vorankommen.
Vereinfacht gesagt bedeutet Kanban: Wenn etwas funktioniert, dann tue mehr davon. Wenn etwas nicht funktioniert, probiere etwas anderes. Das ist in der Praxis allerdings gar nicht so einfach umzusetzen, man muss eben immer wieder offen und möglichst vorurteilsfrei hinschauen und sich Gedanken machen.