Dr. Dominic Lemken ist Agrarökonom am Lehrstuhl „Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte“ an der Uni Göttingen.
Das sündige Thema Ernährung: Über den Einfluss von Elternhaus, Lebensmittelindustrie – und Alter
Interview mit Dr. Dominic Lemken
In seiner Forschung beschäftigt er sich mit dem Verbraucherverhalten bei Lebensmitteln sowie den sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Aspekten von Lebensmittelproduktion und Konsum. Wie können zum Beispiel Konsument*innen von nachhaltigeren oder gesünderen Produkten überzeugt werden? Welche Implikationen hat der Anbau bestimmter Pflanzen in bestimmten Ländern? Einen Forschungsschwerpunkt bilden dabei Leguminosen, auch Hülsenfrüchte genannt.
Herr Lemken, wir wollen mit Ihnen über das Thema Ernährung sprechen. Gibt es Erkenntnisse darüber, wie sich – im Durchschnitt – die Ess-und Trinkgewohnheiten im Verlauf des Lebens entwickeln?
Leider gibt es für Deutschland keine regelmäßigen Panelstudien zum Ernährungsverhalten, die repräsentativ sind. Was wir aber wissen: Gewohnheiten werden im Laufe des Lebens tendenziell starrer eingehalten. Und das Körpergewicht nimmt im Laufe des Lebens zu, vielfach könnte man auch sagen: das Übergewicht, wobei das gar nicht mal unbedingt am Essverhalten liegen muss.
Es gibt also kaum Daten zu einem derart elementaren Thema wie der Ernährung?
Sie sagen es. Was da ist, kann man nur als punktuell bezeichnen. Es gibt zwar eine Nationale Verzehrstudie, die einen breiten Überblick zu den Ernährungsgewohnheiten in Deutschland bietet. Allerdings wurde diese nur zweimal seit den 1980ern erhoben.
Und ist damit aus ernährungswissenschaftlicher Sicht löchrig wie ein Schweizer Käse?
So in etwa. Ernährungssoziologen warten jedenfalls sehnsüchtig auf neue Ergebnisse, die das gesamte Bild darstellen. Etwas anders sieht es beim Blick auf einzelne Gruppen innerhalb der Gesellschaft aus. Es gibt spezialisierte Längsschnittstudien wie NEMONIT oder KiGGS, die die Situation von Kindern und Jugendlichen erfassen. Oder auch den DGE-Ernährungsbericht, der aktuell die Gesundheitssituation von Personen in armutsgefährdeten Haushalten abbildet.
Was lässt sich denn zumindest im Groben über Ernährungsunterschiede zwischen Alt und Jung sagen?
Kein Zweifel, die Unterschiede zwischen der Generation 70+ und den sogenannten Millennials sind erheblich. Ein Hauptgrund dafür ist, dass ältere Menschen ihre Ernährungskompetenzen zu einer Zeit erworben haben, als es noch kaum industriell erzeugtes Essen gab, also weniger Convenience. Daraus lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ableiten, dass unsere Millennials im Alter eher nicht zu ähnlichen Essgewohnheiten neigen werden wie die aktuelle Generation 70+.
Wie gut oder schlecht ernähren sich konkret Studierende?
Das Auffälligste ist wohl die Strukturierung von Mahlzeiten. Studierende neigen zu häufigeren Essenseinnahmen im Tagesablauf. Da reden wir teilweise über mehr als fünf Mahlzeiten am Tag, was derzeit auch als Faktor einer ungesunden Ernährungsweise diskutiert wird. Insgesamt wissen wir aber wenig über das Essverhalten von Studierenden.
Was ist beispielsweise mit dem familiären Hintergrund? Lassen sich hierüber Unterschiede ableiten?
Mit Blick auf den sozioökonomischen Hintergrund ist es so, dass Personen aus gut und sehr gut dastehenden Haushalten ein überdurchschnittlich gesundes Essverhalten pflegen. Allerdings liegt der wissenschaftliche Fokus auch hier nicht auf Studierenden.
Dabei müsste diese Gruppe doch ernährungswissenschaftlich sehr spannend sein, oder?
Absolut, ja. Wir erleben nämlich, dass gerade Personen in Umbruchphasen, wozu natürlich auch der Auszug aus dem Elternhaus zählt, bereit sind für Gewohnheitsänderungen. Und zwar Änderungen, die dann häufig ein Leben lang beibehalten werden. Aus dieser Perspektive wären gerade Studierende sehr interessant.
Gibt es hier Unterschiede zwischen den Geschlechtern? Oder sogar mit Blick auf einzelne Fachbereiche?
Wir wissen, dass Männer im Durchschnitt die größeren Gemüsemuffel sind, gerade in Deutschland. Hinzu kommt ein höherer Verzehr von Rind- und Schweinefleisch. Zu einzelnen Fachbereichen kann ich nichts beisteuern, was über die gängigen Vorurteile hinausgeht. Die Datenlage ist hier wirklich dünn.
Es gibt im studentischen Leben bekanntlich Stressphasen – vor allem vor Prüfungen. Wie ratsam oder eben nicht ratsam ist in solchen Zeiten der Griff zum Schokoriegel?
Generell verbrennen wir ja mehr Kalorien, wenn wir unser Gehirn dazu zwingen, neue Dinge zu lernen. Aber: Man sollte nie den kalorischen Unterschied zwischen Schokoriegeln und Obst vergessen. Wie so oft im Leben kommt es also auf die Menge an.
Und der Griff zum „Bierchen“?
Dazu kann ich nur Folgendes sagen. Ein gutes Lernverhalten entsteht aus einem gesunden und zufriedenen Geist. Wer das völlig ohne Bier schafft, der kann sicherlich auch darauf verzichten.
Nicht selten werden Hülsenfrüchte als Hirndoping bezeichnet. Ist da was dran?
Hülsenfrüchte als Doping habe ich noch nicht gehört (lacht). Es gibt aber auch keine gesicherten Erkenntnisse, dass wir unser Hirn mit handelsüblichen Lebensmitteln dopen können. Auf der anderen Seite können wir es aber mit Nährstoffen unterversorgen. Bei Hülsenfrüchten im Vergleich zu sehr fettigen oder kohlenhydrathaltigen Produkten kann aber schon ein Vorteil in der Denkleistung angenommen werden.
Aus welchem Grund?
Beim Anstieg des Blutzuckerspiegels wird generell der Parasympathikus aktiv und verursacht Müdigkeit, um den Verdauungsprozess anzukurbeln. Fürs Lernen ist allerdings ein gewisses Aktivitätslevel hilfreich, was Hülsenfrüchte dank ihrer Zusammensetzung fördern. Im Kern reden wir hier über wenig Kohlenhydrate und mehr Protein als Getreide, wodurch wiederum im Ergebnis der Aktivitätslevel weniger stark absinkt. Hülsenfrüchte haben übrigens auch abseits der Ernährungsfrage so ihre Vorteile.
Welche sind das?
Hülsenfrüchte sind gut für die Umwelt. Sie wurzeln nämlich tiefer und breiter als Getreide, lockern den Boden auf und können Luftstickstoff binden, der sonst unter erheblichem Energieaufwand gewonnen und dem Boden zugeführt werden muss. Die Umweltbilanz ist im Vergleich zu anderen pflanzlichen und vor allem tierischen Produkten als sehr positiv anzusehen.
Was kann man eigentlich tun, um seinen Lebenswandel nachhaltig zu ändern? Muss das von innen kommen? Oder ist Hilfe von außen der Weg?
Tatsächlich ändern sich Essgewohnheiten nur sehr graduell. Da gibt es die Problematik mit Rebound-Effekten nach Diäten oder Ähnlichem. Zwar wollen viele Menschen gesünder und nachhaltiger essen, verharren dann aber in Alltagsgewohnheiten. Man muss klar sagen: Auf der politischen Ebene gibt es längst eine Auseinandersetzung darüber, wie mündig der Verbraucher eigentlich ist, um seine Essgewohnheiten dauerhaft umzustellen.
Es gibt da ja gewisse Interessen ...
Exakt, der Lobbyverband der Zuckerindustrie etwa erklärt uns, dass das Individuum selbst dafür verantwortlich ist, wenn es zu viele Limonaden oder Schokoriegel konsumiert. Sicherlich gibt es hier ein Spektrum von Eigenverantwortung und Steuerung durch Umwelteinflüsse. Und wie bereits angesprochen, sind jüngere Generationen diesen Umwelteinflüssen in der Regel von Geburt an stärker ausgesetzt als ältere. Oder anders: Früher gab es einfach keine intensiven Marketingbemühungen der Lebensmittelindustrie, die auf den individuellen Lebenswandel abzielten. Das ist heute ganz anders.
Was also tun im Dickicht der Verlockungen?
Ich denke, jeder Mensch tut gut daran anzuerkennen, dass seine Auswahlentscheidung maßgeblich durch seine Umwelt geprägt wird. Das wiederum eröffnet die Möglichkeit, über die eigene Entscheidungsumwelt nachzudenken, womit wir beim Self-Nudging wären. Ein Beispiel: Wenn man zu jedem Essen Paprika, Gurke oder Möhre aufschneidet und vor dem Hauptgericht ansprechend serviert, also mitten hinein in den hohen Appetitlevel, dann steigert das den Gemüsekonsum des gesamten Haushalts. Oder man kann sich wöchentliche Gemüse-Boxen im Internet bestellen, was einen nötigt, das Gemüse zu verwerten. Die Möglichkeiten sind hier endlos.
Hat die Politik die gesunde Ernährung eigentlich genug auf dem Schirm?
Das ist ein zentrales Problem. In Deutschland wird die Verantwortung für Ernährung traditionell als Aufgabe der Familie und nicht als Aufgabe des Staates angesehen. Das ist in vielen EU-Staaten anders geregelt. In der Folge setzen sich in zu vielen Familien Gewohnheiten durch, die dann häufig zu ernährungsbedingten Krankheiten führen, gerade ab den mittleren Altersstufen.
Angesichts etablierter Strukturen scheint es schwierig, den richtigen Schlüssel zu finden.
So ist es. Wir haben ohnehin eine starke Polarisierung in der Debatte um gute Essgewohnheiten. Hinzu kommt, dass die Vermittlung von Ernährungskompetenzen deutlich komplexer geworden ist. Verlockungen und Verfügbarkeiten haben durch das immense Convenience Angebot deutlich zugenommen in den letzten Dekaden, wobei an dieser Stelle noch einmal klar zu sagen ist: Von der Lebensmittelindustrie gefertigte Angebote enthalten im Durchschnitt einfach mehr Zuckerzusatz und weniger frische Zutaten.
An wissenschaftlichen Erkenntnissen dazu sollte es doch eigentlich nicht mangeln.
Der Wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft hat 2021 ein über 1000 Seiten starkes Gutachten vorgelegt – zum Glück gibt es auch eine Zusammenfassung –, wie wir als Gesellschaft zu einer gesünderen und nachhaltigeren Ernährungsweise kommen können.
Welche Kursänderungen ließen sich daraus ableiten?
Ein wesentlicher Teil des Gutachtens beschäftigt sich mit der Argumentation, warum der Staat sehr wohl eine Rolle bei der Ernährung einnehmen muss. Denn: Entlang unseres Ernährungssystems entstehen unaufhörlich externe Kosten, insbesondere durch Umwelt- und Gesundheitsbelastungen. Allein die Behandlung von Typ-2-Diabetes ist milliardenschwer und rechtfertigt eigentlich jede nur denkbare Präventionsmaßnahme.
Welche Ernährungstrends zeichnen sich für die kommenden Jahre ab?
Tatsächlich veröffentlicht das NUTRITION HUB jährlich neue Trends, die auch von offiziellen Stellen aufgegriffen werden. Für 2020 stand da beispielsweise „Gesundes Essen to go“, „Nachhaltige Ernährung“ oder „Digitale Ernährungsberatung“ auf der Liste. Aus Forschungsperspektive sind diese Trends eher Nischen, denen wir zwar deutliches Wachstum zutrauen, die aber mit dem allgemeinen Verhalten von Verbraucher*innen wenig zu tun haben. Wie gesagt, ändert sich das Verbraucherverhalten nur sehr graduell, aber stetig.
Dieses Interview erschien in unserer Fachkraft 2030 Jubiläumsausgabe.
Julia Menke
Meine Leidenschaft sind Bücher, deshalb studierte ich Literatur, Kultur und Medien mit dem Begleitfach Sprache und Kommunikation an der Uni Siegen. Nach meinem Volontariat im PR- und Marketingbereich und einigen Jahren in einer Agentur in Köln, bin ich ins Marketingteam zu jobvalley gekommen. Hier bin ich als Teamlead Content & PR tätig. Nebst dem Strategischen liebe ich es jedoch nach wie vor zu schreiben!
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