Gero Hesse zählt zu den führenden Experten für Employer Branding, Recruiting, HR Startups und New Work.
„Ist doch cool, wenn er für seine Interessen eintritt und diese ihm wichtige Forderung stellt.“
Interview mit Gero Hesse
Mit seinem mehrfach ausgezeichneten Blog und Podcast SAATKORN gibt er seit 2009 Inspirationen für eine bessere Arbeitswelt. Er ist zudem Autor und Ko-Herausgeber des Standardwerkes „Perspektivwechsel im Employer Branding“ sowie langjähriger Ko-Autor des Bestsellers „Praxishandbuch Social Media Recruiting“. Gero Hesse ist Geschäftsführer von TERRITORY Embrace, einer der führenden Employer Branding-, Personalmarketing- und Recruiting-Agenturen in der DACH Region, die unter anderem die Plattformen Ausbildung.de, Trainee.de sowie Meinpraktikum.de betreibt.
Herr Hesse, wie hat sich die Situation am Absolvierenden-Markt in den letzten Jahren verändert?
Deutlich, das muss ich klar sagen. Denn die Frage, ob man als Arbeitgeber genug Talente bekommt, hat sich vor – sagen wir – 15 bis 20 Jahren noch gar nicht wirklich gestellt. Damals war die Demografie aus Arbeitgebersicht noch günstig. In der Folge gab es vor allem einen Run auf die allerbesten Köpfe und exzellente Referenzen, während Absolvent*innen mit eher durchschnittlichem Profil Zusatzrunden drehen mussten. Jedenfalls dann, wenn es schlecht lief, wofür es damals einen ziemlich bedrohlichen Begriff gab: Generation Praktikum.
Und heute?
Beim Blick auf die aktuelle Situation würde ich sagen, dass sich die gewisse Bittstellerhaltung der Absolvierendenjahrgänge rund um den Jahrtausendwechsel längst verflüchtigt hat. Gute Gehälter werden heute einfach vorausgesetzt. Punkt. Und auch sonst werden Ansprüche heute viel selbstbewusster gestellt, was von der Tendenz her übrigens schon 2012 der Fall gewesen sein dürfte – also zum Start der Fachkraft-Befragungen.
Haben Sie im Rückblick selbst Einstellungsgespräche erlebt, nach denen Sie so etwas dachten wie: ‚Oha, da ändern sich aber gerade die Ansprüche‘?
Ja, das habe ich. Ein gutes Beispiel müsste in der Tat um 2012 gewesen sein, als ich in meiner früheren Funktion bei Bertelsmann einen Assistenten einstellen wollte. Ich kannte die Person schon vorher als Azubi und dachte mir: Den Typen, der ist gut, den sichere ich mir‘. Kurz später saßen wir dann tatsächlich im Gespräch zusammen, und er sagte zu mir sinngemäß: „Herr Hesse, Sie kennen mich ja schon. Ich finde es hier super, und ich werde mich garantiert ins Zeug legen – aber mittwochs um 16.00 Uhr habe ich Fußballtraining. Das ist ja ein Mannschaftssport“.
Wie fiel Ihre Reaktion aus?
(lacht) Ich fand das einerseits beeindruckend und andererseits echt dreist, obwohl ich mich wirklich eher als progressiv einschätzen würde. Aber das hat mich schon ein wenig vor den Kopf gestoßen. Mein erster Impuls war dann: ‚Nein, damit ist der Bogen überspannt.‘ Gleich danach habe ich dann aber gedacht: ‚Wieso eigentlich? Ist doch cool, wenn er für seine Interessen eintritt und diese ihm wichtige Forderung stellt.‘
Wie ist es dann ausgegangen?
Am Ende habe ich ihn eingestellt und bin damit immer total glücklich gewesen. Wir sind heute sogar befreundet. Klar, das ist jetzt natürlich nur eine persönliche Anekdote, die sicherlich nicht für die Gesamtbreite der Situation steht, die wir vor zehn Jahren hatten. Aber das Gefühl, dass sich da gerade echt was tut bzw. getan hat im Selbstbild der Absolvent*innen, hatte ich damals schon. Daran kann ich mich gut erinnern.
Was halten Sie eigentlich von der Tatsache, dass heute über die Hälfte eines Abiturjahrgangs zur Hochschule geht? Politisch anvisiert waren ja mal 40 Prozent ...
Genau, und in der Realität liegen wir jetzt bei etwa 56 Prozent, wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe. Meine persönliche Position dazu ist folgende: Die über einen langen Zeitraum sehr prominente Haltung, dass man quasi nur mit einem akademischen Abschluss etwas werden kann, war bildungspolitisch maßlos übertrieben. Oder um es anders zu sagen: Wer in der ja auch volkswirtschaftlich zentralen Frage nach Studium oder Ausbildung persönliche Interessen so gut wie gar nicht mehr berücksichtigt, macht einen gewaltigen Fehler.
Und die Konsequenzen sehen wir jetzt u. a. im Handwerk?
Genau, als Konsequenz haben wir heute einen eklatanten Mangel in den Ausbildungsberufen. Vor allem im Handwerk. Da frage ich mich immer: ‚War das schon lange absehbar?‘ Ja, das war es, auch bei Bertelsmann haben wir den drohenden Fachkräftemangel schon früh thematisiert. Aber: Am Arbeitsmarkt war der Mangel lange nur schwach spürbar, was nicht eben für Weitsicht gesorgt hat. Und jetzt, wo das Problem akut ist, stellt man fest, dass gezieltes Gegensteuern Jahre dauert.
Welche Rolle spielen dabei die Schulen?
Eine zentrale, würde ich sagen, wobei man den Lehrkräften hier ganz bestimmt keinen Vorwurf machen kann. Als Vater von vier Kindern werde ich aber den Eindruck nicht los, dass unser Schulsystem einen Riesenbogen um zentrale Zukunftschancen macht. Konkret: Das gezielte Erkennen und Fördern individueller Stärken ist bedauerlicherweise nicht Teil des Stundenplans. Und ich möchte wetten, dass Deutschland hier mit Blick auf seine Wettbewerbsfähigkeit dicke Probleme bekommt – gerade im Vergleich zu Ländern, wo es in der Schule anders gehandhabt wird.
Was macht heute eigentlich einen guten Arbeitgeber aus? Gutes Gehalt allein reicht definitiv nicht, oder?
Wie eingangs erwähnt, wird eine gutes Gehalt heute einfach vorausgesetzt, damit gewinne ich als Arbeitgeber keinen Blumentopf mehr. Aber verlieren kann ich damit alles. Nämlich dann, wenn ich finanziell zu wenig biete. Dann bin ich raus.
Und womit gewinnt man den Blumentopf?
Den Blumentopf gewinnst du mit einer guten Unternehmenskultur, mit Wertschätzung und Kommunikation auf Augenhöhe. Anders gesagt lautet die Devise der Bewerberinnen und Bewerber heute in etwa so: ‚Beim Gehalt werden wir uns ja wohl einig. Und jetzt erzähl mir mal, was du so zu bieten hast‘. Wir sind also gerade mittendrin in einem Jobmarkt, wo es darum geht, Arbeit individuell immer passender zu gestalten.
Kann man es leicht augenzwinkernd so ausdrücken, dass die Arbeitgeber diesem Pfad nicht zu 100 Prozent freiwillig folgen?
Natürlich hat das damit zu tun, dass die Nachfrage auf Arbeitgeberseite die Zahl passend qualifizierter Kandidat*innen schlichtweg übersteigt. Und zwar auf breiter Ebene. Daher sprechen wir in unserer HR-Blase inzwischen bereits von einem Arbeitskräftemangel – und gar nicht mehr vom Fachkräftemangel. Den Ernst der Lage drückt wahrscheinlich auch aus, dass viele Unternehmen das Personalthema längst zur Chefsache gemacht haben.
Und dann auch noch Corona! Wir konnten in einer unserer letzten Befragungen messen, dass Absolvent*innen auf Homeoffice gar keinen Bock haben – jedenfalls als Dauerzustand. Für Sie verständlich?
Total, ja. Um das zu verstehen, muss man sich wahrscheinlich nur einen Berufsanfänger oder eine Berufsanfängerin vorstellen, weit weg von der Heimat in einem kleinen Apartment und den ganzen Tag alleine am Rechner sitzend. Gerade für junge Menschen muss das ja der Horror sein, weil persönlicher Kontakt und Austausch viel zu kurz kommen. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass nach gut zwei Jahren Corona der zwischenmenschliche Kitt, der die Unternehmen im Kern zusammenhält, flächendeckend so gut wie abgenutzt ist. Das kriegt man über Video-Schalten einfach nicht hin, weshalb ich auch als Unternehmer sehr hoffe, dass alsbald wieder so etwas wie Normalität einkehren kann.
Stichwort Arbeitsplatzsicherheit: Eines unserer Langzeit-Forschungsergebnisse zeigt, dass Studierende immer seltener in den öffentlichen Dienst wollen oder einen Beamtenstatus anstreben.
Das überrascht mich. Ich hätte gedacht, dass das über die letzten zehn Jahre zumindest gleichgeblieben ist – weil in meiner Wahrnehmung das Sicherheitsargument nach wie vor ein wichtiges ist. Andererseits ist es aber auch nicht überraschend, weil sich viele Absolvent*innen ihrer Sache heute sicher sein können. Frei nach dem Motto: ‚Hey, ich finde schon was. Und wenn nicht hier, dann eben dort‘. Dazu passt, dass in Deutschland gerade sehr viele Leute kündigen, ohne bereits den nächsten Job in der Tasche zu haben. Das ist für unseren eher sicherheitszentrierten Arbeitsmarkt völlig untypisch und geht natürlich auf die komfortable Nachfragesituation zurück.
Was ist für Sie aus Arbeitnehmersicht DAS Thema der Zukunft? Wo spielt die Musik?
Für mich sind das gerade eindeutig die Bereiche Technologie und Energie. Vor allem hier, im Energiesektor, werden junge Akademiker*innen in Zukunft wunderbare Möglichkeiten vorfinden, ihre eigenen Einstellungen beruflich zu verfolgen bzw. zu verwirklichen. Das muss ja spannend sein. Ähnlich ist es natürlich bei der Technologie, soweit sich das trennen lässt, weil dort gerade auch junge Menschen erkennen, wie stark der Bereich in ihr und unser aller Leben einwirkt.
Dann wäre da noch das Megathema Digitalisierung. Was halten Sie von der viel diskutierten Vorstellung, dass Computer und Programme uns bald alle arbeitslos machen?
Ich halte davon gar nichts, und ich habe mich damit intensiv beschäftigt in den letzten Jahren. Die nahezu einhellige Meinung aller Expert:innen zu dem Thema ist, dass zwar viele Jobsegmente verschwinden werden, um dann aber durch neue Segmente quasi 1-zu-1 ersetzt zu werden. Unterm Strich muss sich niemand wirklich Sorgen machen, da bin ich recht optimistisch.
Dieses Interview erschien in unserer Fachkraft 2030 Jubiläumsausgabe.
Julia Menke
Meine Leidenschaft sind Bücher, deshalb studierte ich Literatur, Kultur und Medien mit dem Begleitfach Sprache und Kommunikation an der Uni Siegen. Nach meinem Volontariat im PR- und Marketingbereich und einigen Jahren in einer Agentur in Köln, bin ich ins Marketingteam zu jobvalley gekommen. Hier bin ich als Teamlead Content & PR tätig. Nebst dem Strategischen liebe ich es jedoch nach wie vor zu schreiben!
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